Erst im Oktober 2024 wurde der europäische Igel international auf der Roten Liste der bedrohten Arten als potenziell gefährdet eingestuft. Kaum einen Monat später brechen Bayerns Igel-Aufnahmestationen unter der Last der tierischen Patienten zusammen. Obgleich die Notlage der Stacheltiere aus einer Entwicklung der letzten zehn Jahre resultiert, nimmt diese derzeit ein rasantes Tempo an! Nach Nürnberg, Augsburg und Reutlingen hat nun auch das Tierheim München, das größte Süddeutschlands, einen Aufnahmestopp für Igel verhängt.
„Es fällt uns äußerst schwer, doch wir sind an unserer Kapazitätsgrenze angelangt und können keine weiteren Igel mehr aufnehmen“, so Tierheimleiterin Dr. Eva-Maria Natzer. Zuletzt würden täglich rund zwanzig bis dreißig hilfsbedürftige Tiere in der Wildtierstation abgegeben. Man werde regelrecht überrannt, so Natzer. Dabei handelt es sich stets um unterernährte, kranke, schwache oder verletzte Igel, die ohne menschliche Hilfe nie über den Winter kämen. Das Ausmaß läge weit jenseits des gewohnten Tierschutz-Alltags.
Schuld an der akuten Notlage der Igel sind vor allem der fortschreitende Klimawandel, zu wenige geeignete Lebensräume und daraus resultierender massiver Nahrungsmangel. Ihr Lebensraum wird vom Menschen geraubt, durch maßlose Bebauung, intensive Landwirtschaft und unnatürliche Gestaltung von Privatgärten und öffentlichen Grünflächen. Zu großer Hungersnot führt das flächendeckende Insektensterben. Igel sind davon, neben unseren Gartenvögeln, besonders betroffen. Sie finden wegen Flächenversiegelung, steril getrimmten Gärten, Monokulturen und Pestiziden kaum mehr Nahrung. Als reine Insektenfresser brauchen die Stachelritter unbedingt tierisches Protein. Körnermischungen, wie sie häufig im Tierhandel als Igelfutter verkauft werden, können sie kaum verstoffwechseln. Auch wegen der Mangelernährung haben immer mehr Igel mit geschwächtem Immunsystem und schwerem Parasitenbefall zu kämpfen. Dazu kommen äußere Gefahren wie Laubsauger und –bläser, massakrierende Mähroboter sowie der Straßenverkehr.
Angesichts des globalen Artensterbens zählt jedes einzelne Tierleben. Leider gibt es in Bayern viel zu wenige professionelle Auffangstationen und fachkundige Päppelstellen, um all die zu rettenden Igel zu versorgen. Länder und Kommunen fühlen sich für Wildtiere nicht zuständig. Tierschutzarbeit in diesem Bereich finanziert sich ausschließlich über Spenden.
Jedes Jahr nimmt das Münchner Tierheim mehr notleidende Igel auf (im Winter 2023/24 bereits knapp 2.000), pflegt sie gesund und wildert sie dann wieder aus. Die Zahlen der aktuellen, gerade erst gestarteten Saison sprengen jedoch alle Erwartungen: Schon jetzt, Mitte November, wurden weit über 1.000 Igel aufgenommen, so viel wie noch nie!
Nun muss also die Reißleine gezogen und ein Aufnahmestopp verhängt werden. „Weder können wir weitere Gehege/Boxen stellen, noch können unsere PflegerInnen zusätzliche Igel versorgen.“ so Abteilungsleiter Jacek Nitsch, „Wir hoffen, dass sich die Lage bald entspannt, sodass wir die Maßnahme zurücknehmen können. Wir tun alles dafür.“ Bis dahin bitten die TierschützerInnen alle Münchnerinnen und Münchner, die hilfsbedürftige Igel gefunden haben, diese möglichst selbst bei sich zu Hause zu päppeln.
Zur Erstversorgung inklusive Entwurmung können die kleinen Patienten zur Wildtierstation ins Tierheim gebracht werden. Dann müssen sie wieder mitgenommen und zu Hause in einer Box im Warmen mit Futter und Trinkwasser versorgt werden. Zur Fütterung eignet sich am besten Katzenfutter mit hohem Fleischanteil. Bei Unklarheiten kann die Wildtierabteilung unter Tel.: 089 / 921 000 76 zu Rate gezogen werden.
Besondere Sorge bereitet dem Tierschutzverein und dem von ihm betriebenen Tierheim der diese Woche erwartete Wintereinbruch. Schneefall und Minusgrade könnten die Ausnahmesituation der Igel dramatisch zuspitzen! Sie richten daher einen herzzerreißenden Appell an alle Münchnerinnen und Münchner: „Seit jeher müssen unsere heimischen Wildtiere unter den durch uns Menschen verursachten Umweltschäden leiden. Umso mehr haben sie nun in ihrer Not unsere Hilfe verdient! Bitte rettet die Igel in eurem Garten, eurer Umgebung oder die, die ihr geschwächt draußen auffindet! Füttert, wärmt und helft, was das Zeug hält! Wir müssen ein Massensterben unbedingt verhindern!“